Auszüge eines Vortrags im Rahmen des sportethischen Fachtags der Deutschen Evangelischen Kirche.



Ich möchte meinen Vortrag mit zwei Irritationen beginnen …

(1)  Die Diskussion um das Thema Körperkult ist eine akademische Diskussion mit äußerst geringer Prävalenz: Man könnte auch von einem Luxusproblem sprechen. Mit Blick auf die zunehmende Zahl an Menschen weltweit, die unter Übergewicht und/oder Adipositas leiden (in Europa ca. 55%, https://ourworldindata.org/grapher/share-of-adults-who-are-overweight) und den damit verbundenen Bewegungsmangelerkrankungen (Abbildung 1), die nicht nur den oder die Einzelne/n treffen, sondern auch gesundheitspolitisch und gesundheitsökonomisch unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen stellen, würde ich grundsätzlich, im Allgemeinen und generell für etwas mehr Körperkult plädieren.

Abbildung 1: die klassischen Bewegungsmangelerkrankungen.



(2) Körperkult ist eine Transformation des eschatologischen Heilsversprechens in die Gegenwart: Über hunderte von Jahren hinweg, lebten die christlichen Kirchen davon, einer Bevölkerung, die hart arbeiten musste, deren Leben von Mühe, körperlicher Arbeit, Anstrengung, Krieg und Leid geprägt war ein Heilsversprechen zu geben. NACH DEM TOD, IM JENSEITS, WENN WIR NUR DIESES LEBEN DURCHHALTEN – WIRD ALLES BESSER. Dieses Heilsversprechen funktioniert heute nicht mehr, zumindest nicht in den Staaten der ersten Welt, denn (a) geht es uns schon in diesem Leben verdammt gut und (b) sind wir gebildet und haben den Statistikgrundkurs an der Uni besucht …. oder um es in den Worten eines unbekannten Studierenden zu sagen: „Bei den meisten der weltweit Hunderten von Religionen und Glaubensgemeinschaften wandert man in die Hölle, wenn man ihrer Religion nicht angehört. Und weil man nicht mehr als einer Religion angehören kann, ist – zumindest statistisch – davon auszugehen, dass alle Seelen in die Hölle wandern.“

In der heutigen Pluralität der Religionen Wahrheit und Gewissheit zu finden erscheint unmöglich und Religion, da müssen wir uns nichts vormachen, bleibt eine Wette auf die Zukunft der Seele mit wackeligen Erfolgsaussichten. Denn es ist noch keiner zurückgekommen und hat bestätigt, dass das, was uns im Jenseits versprochen wird, auch zutrifft. Und da ist es verständlich, dass der Mensch sein Heil selbst in die Hand nimmt. Das Heil, nachdem wir heute alle streben ist Gesundheit und ein langes Leben. Und das ist nicht unverfügbar und ungewiss, sondern nach ein paar Wochen und Monaten Training können wir den Erfolg sehen und spüren. Körperlich und auch psychisch. Das ist quasi die konsequente Fortführung des mittelalterlichen Ablasshandels. Nicht Geld für Heil, sondern Schweiß für Heil.



Zu meiner Hauptthese und dem Titel meines Beitrags: SPORT UND SEELSORGE – Laufen ist wie Beten: Wir haben 2013 eine Studie an der Deutschen Sporthochschule durchgeführt, die sich mit dem Thema Sport und Spiritualität beschäftigte. Der Begriff Spiritualität ist sehr weitreichend und recht ein spirituelles Erleben schwer zu fassen. Aber im Allgemeinen geht man davon aus, dass spirituelle Menschen eine hohe Lebenszufriedenheit und eine hohe Stressresistenz haben. In besagter Studie haben wir knapp 70 Studierende im Alter zwischen 19 und 23 Jahren 30 Minuten joggen lassen und zuvor, ebenso wie im Anschluss, mit dem Spirituality and Resilience Assessment Packet (Kaas, Friedman, et al. 1991) die Wahrnehmung ihrer aktuellen Lebenszufriedenheit und Stressresistenz erhoben. Interessanterweise war bei den Studierenden nach der 30-minütigen Belastung eine signifikant höhere wahrgenommene Lebenszufriedenheit ebenso wie eine signifikant höher wahrgenommene Stressresistenz zu beobachten (Abbildung 2). Hat Laufen eine spirituelle Dimension?

Abbildung 2: Veränderung der wahrgenommenen Lebenszufriedenheit und der Stressresistenz vor nach einem 30-minütigen Lauf bei moderatem Tempo. * und ** markieren statistisch signifikante Veränderungen. n=67 zwischen 19 und 23 Jahren.



Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, dass Bewegung ein fundamentaler Teil des menschlichen Wesens ist. Egal, welche Anthropogenese man betrachtet, ob die biblische, wo Adam nach dem Sündenfall in Genesis 3,19 dazu verdammt wird, sein täglich Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen, oder einer mehr wissenschaftlichen, stammesgeschichtlichen Entwicklung: Erwerbstätigkeit war über tausende von Jahren körperliche Erwerbstätigkeit. Der Mensch musste, um sein tägliches Brot zu verdienen, körperlich arbeiten. Dicksein galt als Symbol des Wohlstands und der, ebenso wie das Dicksein, ist nur wenigen zuteil geworden.

Wenn wir in die Bibel schauen, finden wir auf den ersten Blick wenig zum Thema Sport und Bewegung. Das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass Sport in der Lebenswelt der biblischen Protagonisten nicht vorkam. W.H. Schmidt schreibt in seiner Einleitung zur Sozialgeschichte des Alten Testaments, dass eine Rückschluss der Schriften auf die sozialen Gegebenheiten des AT nur schwer möglich ist, denn „das selbstverständlich Gegebene braucht nicht explizit erwähnt oder aufgeschrieben zu werden“. Wenn man etwas mehr zwischen den Zeilen liest, merkt man schnell, dass die Bibel voller bewegter Geschichten ist – und das meine ich nicht metaphorisch: Das Volk Israel ist 40 Jahre durch die Wüste gezogen. Jesus Christus hat in den ersten acht Monaten seiner dreijährigen, messianischen Wirksamkeit, dass lässt sich anhand der Evangelien nachverfolgen, Judäa und Israel mehrfach durchquert und kommt, wen wir die Strecke heute bei Google Maps eintragen, auf eine Strecke von 1061km. Witzigerweise liefert Google Maps den Hinweis: „Seien Sie vorsichtig! Auf dieser Route gibt es eventuell keine Bürgersteige oder Fußwege.“

Die enge Verbundenheit des Menschen mit Bewegung ist bis weit in unseren Sprachgebrauch vorgedrungen. Wir begreifen etwas – begreifen ist ja erst einmal eine motorische Tätigkeit, aber dadurch, dass wir etwas in die Hand nehmen und näher betrachten, verstehen wir es. Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich verliebt bin. 2017 durfte ich den EU-Politiker Martin Schulz an unserer Hochschule begrüßen. Nachdem ich mir einige Tage Gedanken gemacht hatte, wie ich ihn für Sport und Bewegung begeistere, hatte ich die Idee einmal die Wahlbeteiligung der Jahre 1998-2009 bei der Bundestagwahl mit dem Anteil der Übergewichtigen an der Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum zu korrelieren. Es heißt ja „zur Wahl gehen“. Und tatsächlich gibt es hier einen negativen Zusammenhang: je mehr dicke Menschen wir in Deutschland haben, desto geringer ist die Wahlbeteiligung (Abbildung 3).

Abbildung 3: Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung der Jahre 1998-2009 bei der Bundestagswahl und dem Anteil der Übergewichtigen an der Gesamtbevölkerung im Zeitraum 1999-2009.  Die rote Regressionsgrade zeigt einen signifikanten negativen Zusammenhang (r=.38, p < .01)



Natürlich sind diese Zahlen nicht repräsentativ. Mein Anliegen bestand darin eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wie die anthropologische Grundkonstante Bewegung über viele tausende von Jahren nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Sprache geprägt hat.

Der Mensch ist Leib-Seele-Einheit. Das Vitalitätsprinzip des Alten Testaments macht uns deutlich, dass der Mensch nicht nur geschaffene Körperlichkeit ist. Die Schöpfungsgeschichte in Genesis 2 beschriebt das sehr schön, der Mensch wird erst zum lebendigen Wesen, nachdem ihm Gott seinen Atem eingehaucht hat.

Wenn der Mensch Leib-Seele Einheit ist und Bewegung Teil des menschlichen Wesens ist, dann ist davon auszugehen, dass dort, wo der Körper krank wird auch die Seele krank wird.

Und tatsächlich müssen wir die klassischen körperlichen Bewegungsmangelerkrankungen heute auch um psychische Bewegungsmangelerkrankungen ergänzen: Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern; Stress, Depression, Burnout im Job und neurodegenerative Erkrankungen im Alter (Abbildung 4).

Abbildung 4: die klassischen, körperlichen Bewegungsmangelerkrankungen (oben) und die mentale/psychische Bewegungsmangelerkrankungen.



Ähnlich wie die körperlichen Bewegungsmangelerkrankungen, sind auch diese psychischen Bewegungsmangelerkrankungen weltweit auf dem Vormarsch und es besteht eine enge Korrelation zwischen Bewegungsmangel (https://www.who.int/gho/ncd/risk_factors/physical_activity/en/) und den psychischen/mentalen Erkrankung (https://ourworldindata.org/mental-health). Und ich darf daran erinnern, dass ψυχή das altgriechische Wort für Seele ist. Und Seelsorge, d.h. die Sorge um die Seele des Menschen eine zutiefst christliche Aufgabe ist. Sport und Bewegung können dabei helfen.

Im Folgenden habe ich einmal übersichtsartig, die relevanten Effekte von Sport und Bewegung im Hinblick auf die psychische Gesundheit aufgelistet:

(1) Bewegung reduziert Stress durch einen Abbau der Stresshormone und führt dazu, dass kognitive Areale des Gehirns in einen „Standby-Modus“ gefahren werden (Theorie der transienten Hypofrontalität: https://www.youtube.com/watch?v=gFNPqRv2iCE)

(2) Sport und Bewegung machen müde, wer müde ist, schläft besser, wer gut geschlafen hat ist mental fitter

(3) Sport fördert die Neuro- und Synaptogenese und kann der Entstehung und der Progredienz neurodegenerativer Erkrankungen (z.B. Alzheimer Erkrankung positiv beeinflussen https://www.linkedin.com/pulse/w%C3%A4re-jesus-dement-geworden-stefan-schneider/)  

In einer Welt, die von Bewegungsmangel geprägt ist, kann Sport und Bewegung dazu beitragen, das innere Gleichgewicht wieder zu finden. Ich weiß nicht, ob Benedikt von Nursia, dem Gründervater der Benediktiner dieses Prinzip bewusst war, aber der Grundtenor der Regula Benedicti, das Ora et Labora, beschreibt genau dieses Wechselspiel von körperlicher Belastung und körperlicher Ruhe. Ich bin mir ganz sicher, dass auch der Bauer, der im 19.Jahrhundert am Sonntag in den Gottesdienst gegangen ist, dort nicht zwingend auf der Suche nach geistiger Erleuchtung war, sondern ebenso froh war, eine Stunde in Ruhe sitzen  zu können und den Körper zu entspannen. Heute ist es anders herum. Wir sitzen zu viel und brauchen die körperliche Aktivität zum Ausgleich.

Wie sähe es aus, wenn die Bibel heute geschrieben würde? Würde davon berichtet, dass Jesus Christus auch mal Joggen geht? Und Paulus, der immer dahingegangen, wo es weh tat, der immer die geographischen und physischen Grenzen gesucht hat. Statt in Griechenland, würde er heute vielleicht in der Muckibude missionieren? Und Gott? Wäre Gott ist der Strippenzieher im Hintergrund? Der alte Mann auf dem Golfplatz?

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